Lieber Mensch,
mit den Klängen des live übertragenen Silvesterkonzerts der Berliner Philharmoniker finde ich diese Worte in mir, welche dich jetzt doch noch erreichen sollen, bevor „mein“ Jahr 2015 mit Yoga, Gesang und gemeinsamer Meditation zu Ende gehen wird. Ich probiere dieses Jahr, am 31.Dezember, mal etwas Neues.
“Das Leben beginnt heute.”
Tiefes Lauschen
„Das Leben beginnt heute“ schreibt Jacques Lusseyran, ein ehemaliger KZ-Häftling und späterer Professor für Sprachwissenschaft und französische Literatur. Was könnte Lusseyran damit meinen, wenn er schreibt, dass das Leben heute beginnt? Verweist er darauf, dass man, du und ich, jeden Tag so beginnen sollten, als ob er der allerletzte sei? Oder meint Lusseyran, dass wir einen neuen und zugleich reifen, kindlich-offenen Blick einüben könnten und sollten? So wie ein Kind, welches sich ganz dem Augenblick hingibt?
Ich meine, Antworten liegen zumeist im Innen. Nicht immer gleich zu fragen: Warum ich, warum mich? Sondern: Ich bin der Gefragte. Also könnte ich die Frage auch als Wende sehen? Und zwar so, dass ich mal einfach nicht mehr nach dem Sinn des Lebens frage, sondern dass ich mich selbst als Befragten erlebe? Fragen, deren Antwort nicht im Grübeln, Denken und Reden liegt, sondern dass ich nur durch Handeln eine für mich bessere Antwort finden kann? Und hier - genau hier - zwischen dem Anstoß durch eine äußere Situation und der Antwort aus dem Inneren - kann sich ein Zwischenraum, ein Freiraum eröffnen (und wieder: ich öffne aktiv diesen Zwischenraum) und in diesem Raum kann ich innehalten und lauschen. So wie beim Ausüben einer Kunst - beim Malen stehe ich vor einer weißen Leinwand, beim Plastizieren vor einer zu Beginn ungeformten Masse. Also innehalten, lauschen, einen freien Atemzug machen, bevor ich handle.
Für mich geht ein sehr bewegtes Jahr zu Ende. Einer meiner Lehrer würde mich bei diesem Satz jetzt fragen: Hat das Leben dich bewegt – oder du das Leben? Wer war aktiv? Ja, ich war aktiv. Andauernd. Permanent. Unaufhörlich. Und diese Selbsterkenntnis lässt mich immer wieder erneut lächeln und staunen. In diesem Jahr durfte ich Menschen begleiten, die sich als krank, verzweifelt, schwermütig, zerrissen oder müde bezeichneten. Krankheiten, Schmerz, Trauer, Abschiede, Trennungen, Umbrüche, der Tod eines geliebten Menschen, Einsamkeit - sie sind Teil unser aller Leben.
In DIR wohnt bereits alles
Wenn Vertrautes, Gewohntes und Altes geht, was könnte dies uns lehren? Ich meine, es lehrt uns eines: dass wir nichts haben. Wir kommen mit leeren Händen und gehen mit leeren Händen. Ich meine, wir sind Hüter und Verwalter der endlichen Dinge. Und in dem Moment dieser Einsicht, umarmt uns die Erkenntnis, dass wir alles haben. Denken, Fühlen, Atmen, Lieben, unsere Hände und unsere Schöpferkraft. Die Schönheit des Morgenhimmels grüßt uns jeden Tag und in der Tiefe unseres Herzens sind wir unbeschadet. Eine Ahnung, dass in uns eine Instanz ist, die durch nichts beschädigt werden kann, die immer heil ist. Diese Instanz ist unser tiefstes Wesen, unser Gewahrsein, unser Seelengrund. Und das, was wir im Innersten sind, möchte sich entfalten, will erblühen. Wir sind fähig, unser eigenes Erblühen zu bejahen und behutsam zu erlauben und zu fördern.
Jacques Lusseyran fand aus seiner Zeit heraus, aus seinem gesamten biographischen Lebenskontext, seine Antworten. Ich meine, jeder von uns ist aufgerufen, seine ureigenste Antwort zu finden. Das Buch schließt mit folgenden Worten:
“Jeden Morgen - jede Minute - wach werden und sehen, wie das Leben beginnt - welch ein Glück.”
Lieber Mensch, so rufe ich dir zu: Hab´ Mut und sprich auch anderen Mut zu. Hab´ Vertrauen und sei vertrauenswürdig. Sei nachsichtig mit dir und anderen. Erkenne, dass du erzeugst und gestaltest. In jedem Tag, in jedem Moment wohnt die Möglichkeit der Erneuerung. Es gibt kein Zuspät für Veränderung, für Erkenntnis, für Versöhnung, für Tatkraft, für Liebe. Für das Sein deiner einzigartigen Endlichkeit.
Ich wünsche dir ein gesegnetes, lebendiges und herzensfrohes Jahr 2016.
Herzlichst,
