Der spirituelle Lehrer

Lieber Mensch, 

in den vergangenen Monaten begegnete mir wiederholt die zeitlose Frage des anderen in Gesprächen und in Emails nach einem spirituellen Lehrer. Der eine sucht einen Lehrer, eine Lehrerin, der andere ist verzweifelt und desillusioniert durch eine Begegnung mit einem Lehrer und wieder ein anderer ringt um die generelle Frage einer Lehrerschaft und einer Schülerschaft. 

Der eine spirituelle Lehrer fordert ein„unbedingtes Folgen“ des Schülers - auf der Homepage eines anderen Lehrers durfte ich dann dieses lesen „Wenn ich du wäre, ich würde niemals mir folgen.“ 

 

Ich bin nicht das, was mir passiert ist. Ich bin das, was ich entscheide zu werden.
— C.G. Jung

Spiritualität als Lebensweise

Der Begriff der Spiritualität ist mit vielen Sinngehalten verbunden. Etymologisch steht dieser Begriff mit lat. spiritus = Geist in Verbindung und bedeutet "vom Geist erfüllt" oder "beseelt sein" – als eine geistig-geistliche Orientierung und Lebenspraxis, ich nenne es bewusstes Menschsein.

Der spirituelle Lehrer

Ein spiritueller Lehrer ist in meinen Augen jemand, der dem anderen behilflich ist, den Berg zu besteigen, den Gipfel zu erklimmen. Der Lehrer ist ein Wegweiser auf dem Pfad, ein Lehrer kann die Entwicklung des anderen beschleunigen. Ich meine, die Verbindung zwischen Lehrer und Schüler ist etwas ganz besonderes, ein Geheimnis, ein Mysterium, etwas, was sich dem Verstand oft entzieht. Eine Verbindung, die geprägt ist von tiefem Verständnis, schützender Fürsorge und lebhaftem Interesse an der Entwicklung des Anderen sowie von klarer Absicht, Vertrauen und Einsatz, einem tiefem, brennenden Ja. Etwas im Schüler hüpft vor Freude oder Glückseligkeit bei einer wirklichen Begegnung mit einem spirituellen Weg und Lehrer. Wie jede andere Beziehung, so beruht auch die Lehrer-Schüler-Beziehung auf Gegenseitigkeit. Die Antwort eines wahren Lehrers wird der Hingabe und der Ernsthaftigkeit des Schülers entsprechen. 

Das einzig lebenswerte Abenteuer kann für den modernen Menschen nur noch innen zu finden sein.
— C.G. Jung

Der wahre Schüler

Was könnte dies sein? Ich meine, dass es hilfreich sein könnte, wenn ein möglicher Schüler sich selbst einige Fragen stellt. Bin ich bereit mich für eine gewisse Zeit zu verpflichten? Will ich ernsthaft lernen? Bin ich verlässlich? Bin ich bereit, Verantwortung zu übernehmen? Bin ich bereit mein kindisches Verhalten zu erkennen und zu überwinden? Um dieses Verhalten zu überwinden, bedarf es der Bereitschaft eigene Projektionen (Übertragungen) auf den Lehrer zu erkennen. Was bewirkt mein Sein mit dem Lehrer? Werde ich ruhiger, friedlicher und klarer?

Wie kann ich nun einen Lehrer finden? Und nach welchen Kriterien? Ich meine, es gibt durchaus Hinweise, auf die es sich lohnt zu achten, wenn man einen Lehrer, eine Lehrerin in Erwägung zieht. 

Der spirituelle Lehrer - vom äußeren zum inneren Lehrer

Wenn du einem möglichen Lehrer begegnest, wäre es weise, diesen zu fragen: „Wer ist dein Lehrer? Vor wem oder was verneigst du dich? Wer gab dir die Erlaubnis zu lehren?“ Dient der Lehrer sich selbst oder anderen? Hier bedarf es in meinen Augen besonderer Aufmerksamkeit - denn meiner Erfahrung nach, ist manchmal ein scheinbar dienendes Verhalten des Lehrers zutiefst selbstsüchtig und andererseits ein scheinbar egoistisches Verhalten zutiefst demütig. Handelt der Lehrer klar und weise in diesen vier grobstofflichen Punkten - Geld, Besitz, Sex und Macht - individuell und kollektiv? Wie sind die Schüler des Lehrers, der Lehrerin? Verwirklichen die langjährigen Schüler des Lehrers diejenigen Qualitäten, nach denen ich selbst strebe? Auf diese Fragen gibt es meines Erachtens keine richtigen oder falschen Antworten, sondern nur zutiefst persönliche Antworten. Der äußere spirituelle Lehrer hat die Aufgabe, auf den inneren Lehrer seines Schülers zu verweisen.  

Unser Ich ist eine Eingrenzung. Wenn wir diese Eingrenzung weiten und überwinden, erkennen wir unser göttliches Wesen. Unser Ich (personales Selbst) ist eine gewaltige Errungenschaft im Rahmen der Evolution, aber es ist gleichzeitig eine Eingrenzung. Unser wahres göttliches Wesen liegt sehr viel tiefer. Das Ich ist nur das Instrument auf dem der Spieler, das Göttliche, die Quelle, der Urgrund allen Seins, spielt. Zu erkennen, dass wir in Wirklichkeit auch der Spieler sind, ist die mystische Erfahrung.

Lieber Mensch, für mich persönlich gibt es ein Hauptkriterium im Hinblick auf einen spirituellen Lehrer - die LIEBE. Ich meine, eines der wesentlichen Kennzeichen der spirituellen Reife ist ein Zuwachs an Mitgefühl. Der, der von sich sagt, ein spiritueller Lehrer zu sein, mag ein großartiger Heiler, Therapeut, Philosoph, Autor, Wissenschaftler sein - wenn aber KEIN deutliches Wachstum an gelebtem Mitgefühl, Liebe und Herzensgüte vorhanden ist, dann haben wir es meines Erachtens mit einer Art Erwachen zu tun, das mehr Probleme verursacht als zu helfen.  

Man wird nicht erleuchtet in dem man sich Lichtfiguren vorstellt, sondern indem man sich der Dunkelheit bewusst wird.
— C.G. Jung

Ich meine, es reicht nicht, meditationserfahren, wortgewandt, intellektuell geschult oder sehr belesen zu sein - es braucht die Liebe. LIEBE und Liebe SEIN und LEBEN - wenn wir das nicht tun, dann ist es nur ein weiteres Ding, eine weitere Ablenkung, und wir haben nicht verstanden, worum es geht. Meine Erfahrung lehrt mich, dass der Weg zu dieser LIEBE, die einen erwachen lässt, die heilt, vergibt und verbindet durch unsere eigene und gemeinsame Dunkelheit führt. 

Liebe und Segen für uns alle. Herzlichst