UNVERGLEICHLICH/Teil 1

Liebes Menschenwesen,

leuchtet der eigentliche Kern der Anthroposophie besser auf oder droht sie den in ihr liegenden Willensimpuls und ihre Aufgabe zu verlieren, wenn versucht wird die Anthroposophie Rudolf Steiners  in die Weltsichten Ken Wilbers zu integrieren? (Nachfolgend erlaube ich mir, der Einfachheit halber die entsprechenden Namen Ken Wilber (KW) Rudolf Steiner (RS) und Meister Eckehart (ME) mit ihren Initialen wiederzugeben.)

Meinem Verständnis nach versteht sich KW selbst als spiritueller Philosoph und Neu-Denker und seine Arbeit als Diskussionsbeitrag. Schon sehr bald bemerkte ich eine Schwierigkeit in meiner Beschäftigung mit Wilbers Gedankengut. Seine bisherigen Arbeiten haben bereits ein beträchtliches Ausmaß, dieses kann (von mir) nicht so schnell in seinen einzelnen Aspekten und seiner Bedeutung überblickt werden.

Allerdings frage ich mich, ob KW ab und an nicht doch ein wenig zu kurz springt. Zum Beispiel in der Theorie der Holone, nach der alles Höhere aus dem Niederen entsteht und dieses gleichzeitig verneint und umarmt. Mir scheint es, dass das System Wilber Gegebenheiten und Umstände sucht zu überwinden und dabei blind für eigene Gegebenheiten und Zustände bleibt. So wie KW in seinem Buch "Integrale Meditation" den Leser dazu auffordert, sich bewusst zu machen, dass der integrale Ansatz keine Theorie oder Philosophie sei, sondern eine Beschreibung einer realen, weltweiten Entwicklung ... .  Bei der Auseinandersetzung mit dieser umfangreichen Thematik, durfte ich auch von sogenannten Wilber-Kennern bereits Bemerkungen über den"überholten Wilber" lesen.

Erfahrungen und Wege

Wo sollen wir den Geist ansiedeln? Was können wir wirklich als heilig anerkennen? Wo genau ist der Seinsgrund? Wo ist dieses höchst Göttliche?
— Ken Wilber in "Das Wahre, Schöne, Gute"

KW nähert sich in meditativer Sprache den Antworten auf diese Fragen. Der Leser kann erkennen, dass er selbst fähig ist, sich eines jeden Objektes, seiner Gedanken, seiner Körperempfindungen, seiner Gefühle bewusst zu werden und zugleich, dass er dies alles nicht selbst sein kann - denn er ist der "unberührte Zeuge" all dieser kommenden und gehenden Prozesse. 

Dieses schlichte Zeugen-Gewahrsein ist den Traditionen zufolge der Geist selbst, der erleuchtete Geist, die Buddha-Natur selbst, Gott selbst in seiner Gänze. Den Traditionen zufolge ist es also nicht sonderlich schwierig, Kontakt mit dem Geist, mit Gott oder dem erleuchteten Geist zu erlangen. Dies ist einfach das eigene Zeugen-Gewahrsein in genau diesem Augenblick.
— Ken Wilber in "Das Wahre, Schöne, Gute"
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Kann "Geist" irgendwo gefunden werden?

KW spricht davon, dass in diesem Moment, in dem der Mensch sich gewahr wird all seiner inneren und äußeren Vorgänge, also dass das Wesen des Geistes Präsenz selbst ist, dass in diesem Moment die Empfindung des getrennten Ich vollständig verschwindet. Die höchste Wirklichkeit, die wir nicht sehen können, da wir sie ja unsrer Natur nach selbst sind, beschreibt KW  so:

Man ist nicht auf dieser Seite seines Antlitzes und schaut auf den Berg da draußen; man ist alles, was von Augenblick zu Augenblick entsteht, ganz einfach, ganz klar, einfach so. (...) Der Geist ist kein Objekt; er ist radikales allgegenwärtiges Subjekt und daher nichts, was vor uns wie ein Stein, ein Bild, ein Gedanke, ein Licht, eine Empfindung, eine Erkenntnis, eine leuchtende Wolke, eine intensive Schau oder eine Empfindung großer Seligkeit auftauchen würde. All dies ist recht und schön - aber es sind Objekte, und eben dies ist der Geist nicht. Wen man also im Zeugen ruht, sieht man nichts Besonderes. Der wahre Seher ist nichts, was man sehen kann, weshalb man einfach damit beginnt, seine Identifikation mit jeglichen Objekten aufzugeben. (...) Anblicke ziehen in der Natur vorbei, Gedanken ziehen im Geist vorbei, Gefühle ziehen im Körper vorbei, und ich bin nichts davon. Ich bin kein Objekt. Ich bin der reine Zeuge all dieser Objekte. Ich bin Bewusstsein als solches..
— Ken Wilber in "Das Wahre, Schöne, Gute"

Entsprechungen

So stelle ich fest, dass für KW das Bewusstsein selbst der göttliche allgegenwärtige Geist jenseits aller Polarität ist. Der innere Weg zu diesem Bewusstsein ist, so KW, der der Entwerdung, also der Loslösung des Ich aus der Identifikation mit den Objekten.

In den Predigten des christlichen Mystikers Meister Eckehart findet man dieses:

Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen. Der Menschen gibt es wenige, die das recht beachten und darin beständig sind. Es ist ein gleichwertiger Austausch und ein gerechter Handel: So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit , nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen, dafern du in allen Dingen dich des Deinen völlig entäußerst. Damit heb´an, und lass dich alles kosten, was aufzubringen du vermagst. Du findest den wahren Frieden nirgends sonst
— Meister Eckehart in "Deutsche Predigten und Traktate"

ME folgt einem geistigen Schulungsweg, der meines Erachtens mit den unterschiedlichen Traditionen, auf die sich KW bezieht, übereinstimmt. Desweiteren stellt KW fest, dass im eigentlichen Sinne ein Suchen weder nötig und noch möglich ist, denn das Bewusstsein sei nicht etwas von uns Getrenntes, da wir es selbst seien und immer waren. 

Auch in dieser Anschauung sehe ich eine Entsprechung zu ME:

Denn, soll der Mensch wahrhafte Armut haben, so muss er seines geschaffenen Willens so ledig sein, wie er´s war, als er noch nicht war. Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, solange seid ihr nicht richtig arm. Denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts begehrt.
— Meister Eckehart in "Deutsche Predigten und Traktate"

Auch ME geht den Weg der Entwerdung, um sich dem Göttlichen zu nähern. Ist der Weg bis zu einem gewissen Grad gegangen worden, beginnt sich eine Verwandlung in der Seele des Menschen zu vollziehen.

Der von allen fremden Bildern ledig ist, so ledig, wie er es war, da er noch nicht war.
— Meister Eckehart in "Deutsche Predigten und Traktate"

Hier wird ein vorgeburtlicher Seelenzustand jenseits des Gewordenen geschildert, welches auch KW beschreibt:

Wenn ich in diesem schlichten, klaren, allgegenwärtigen Zeugen ruhe, ruhe ich im großen Ungeborenen, im wesenhaften Geist, in der ursprünglichen Leerheit, in unendlicher Freiheit.
— Ken Wilber in "Einfach DAS "

Ich kann in MEs Vorstellungen keinen Widerspruch zu den dargelegten Vorstellungen KWs feststellen, im Gegenteil: Die Entsprechungen sind, bis in einzelne Formulierungen, auffallend.

Die Rosenkreuzer

Die Rosenkreuzer bilden einen bedeutenden geistigen Strom innerhalb des esoterischen Christentums, in dieser wurzelt auch die Anthroposophie Rudolf Steiners. Auch dort sind Erfahrungen zu finden, die jenen KWs vergleichbar sind. KW zitiert den Daoisten Zhuangzi:

Der Vollkommene benutzt den Geist als Spiegel. Dieser ergreift nicht, er nimmt auf, aber hält nicht fest.
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Das Symbol des Spiegels findet man auch in diesen Bildern. In dem ersten Bild ist der Hermesstab zu sehen, zwischen den Flügeln befindet sich ein Spiegel; zu diesem erhebt sich der Doppeladler. Im zweiten Bild ist an der Spitze der Achse zwischen Sonne und Mond ein Stern zu sehen. Dargestellt werden soll die Polarität unserer Welt und die  Anschauung durch Sonne und Mond, welche den männlichen und weiblichen Seeleneigenschaften entsprechen. Wenn diese überwunden werden, realisierten wir Menschen intuitiv das Bewusst-Sein, unser kosmisches Selbst, was durch die Symbole eines Spiegels oder Sterns ausgedrückt wird.

 Westliche und östliche Weisheitstraditionen kommen zu ähnlichen Erfahrungen und Erkenntnissen. Im Osten spricht man von der "Tausendblättrigen Lotusblüte" am Scheitel des Hauptes, die den Übergang zu einem erleuchteten Bewusstsein jenseits der Raum-Zeit-Ebene bildet.  Die Rosenkreuzer sprechen von der intuitiven Realisierung des Selbst als " Bewusstsein jenseits des Saturn". Dieser wird als siebter Planet in Entsprechung zur tausendblättrigen Lotusblume wie das siebte Chakra am Scheitelzentrum des Hauptes dargestellt. Der Rosenkreuzer geht auf seinem Weg der inneren Entwicklung durch die Ebenen der sich bewegenden sieben Planeten und realisiert dann die "Fixsternsphäre". Diese wird als ein grenzenloses, rein kosmisches, in sich ruhendes Bewusstseinsmeer erlebt und durch den Stern auf der vertikalen Achse symbolisiert. 

Dieser unermessliche Ozean der Leichtigkeit, diese große Weite der Freiheit, dieses klare Meer der Stille.
— Ken Wilber in "Einfach DAS"

Einheit ?

Ich meine zu erkennen, dass KW das Bewusstsein jenseits der Objekte als die höchste Realität versteht.

Denn Gott und Ich sind eins im allgegenwärtigen Zeugen, der die Wesensnatur des inneren Geistes selbst ist, der genau dasjenige ist, was ich im Zustand meiner Ichseiendheit bin. Wenn ich kein Objekt bin, dann bin ich Gott (...) Und da man diese Erfahrung in jeder großen Religion nachweisen kann, können wir zu Recht von der transzendierenden Einheit der Religionen und der Einmütigkeit der ursprünglichen Wahrheit sprechen.
— Ken Wilber in "Wege zum Selbst"

Lieber Mensch,

an diesem Punkt, der Wertung und Zuordnung dieser Erfahrung des reinen Bewusstseins im Hinblick auf das Verständnis des Göttlichen, unterscheidet sich die Anschauung Ken Wilbers von der christlichen Spiritualität. Diesen von mir dargelegten Unterschied findest du in UNVERGLEICHLICH/Teil 2.

Herzlichst, Ihre und deine

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